Mobilitäts-Gedanken

Wir brauchen eine andere Mobilität. Das ist eine Binsenweisheit. Vielen ist bewusst, dass genau dieser Bereich massiv hinterherhinkt, wenn es um das Erreichen der Klimaziele geht. Dass dies eine wirkliche Überlebensfrage ist, spätestens für die Generation unserer Enkel, scheint weniger im allgemeinen Bewusstsein zu sein, oder daraus verdrängt zu werden. Gleichwohl ist es eine Tatsache.

Zweierlei ist notwendig. Zum einen brauchen wir eine breite Änderung des kollektiven Bewusstseins und individuellen Mobilitätsverhaltens, zum anderen politische wie auch unternehmerische Weichenstellungen, welche dies erst ermöglichen und weiter fördern, indem die Voraussetzungen für einen weit reichenden Umstieg geschaffen werden.

Wie sieht der momentane Realitäts-Check dazu aus?

Ich nutze den ersten Novembersonntag zur (natürlich Bahn-)Fahrt von Weimar aus zu einem Kurzbesuch meiner Mutter in Leipzig. Abfahrt des Abellio-Triebzuges 13:18 Uhr. Die nächsten siebzig Minuten verbringe ich im Stehen, dichtgedrängt in einem der Türräume. Vier Stunden später ab Leipzig-Leutzsch: genau dasselbe. Nun ja, ich bin es gewohnt. Mittlerweile ist diese Körperhaltung auch der Standard für den arbeitstäglichen Weg zwischen Weimar und Erfurt. Das ist (noch) kein wirkliches Problem für mich, mit den 12 bis 15 Minuten Fahrzeit. Die kürzlich gelesene schwärmerische Aussage einer Prominenten in einer Postille, das schöne am Bahnfahren sei, sich eben fahren zu lassen und nebenher arbeiten, lesen oder schlafen zu können, verbanne ich mal in die Nostalgieschublade meines Langzeitgedächtnisses. Zwei Wochen und ungelogen vier kurzfristige Zugausfälle später (einmal folgte dem nicht verkehrenden Abellio-Zug Montag früh in Weimar ein aus einem(!) kleinen Regio-Shuttle bestehender Zug der Erfurter Bahn…) denke ich mit langsam gemischten Gefühlen (meine Tochter war zusätzlich noch an einem Sonnabendabend mit ihrem Fahrrad in Erfurt wegen Überfüllung aus dem letzten DB-Zug Richtung Weimar verwiesen worden) an den geplanten Adventsbesuch meiner Mutter bei uns. Von der Sache her gibt es eine top Zugverbindung. Aber 70 Minuten stehend hält sie mit ihren 81 Jahren gewiss nicht mehr durch. Was also tun, als nachhaltigkeitsbewusster und über die Notwendigkeiten des konsequenten Wandels aufgeklärter Zeitgenosse, und noch dazu selbst bei der Bahn beruflich tätig?

Liebe Verantwortliche, eigentlich wäre es doch ganz einfach. Die Politik und auch weite Teile der Gesellschaft haben realisiert, dass es nicht mehr so weiter gehen kann und darf wie bisher. Allenthalben wird auch die Unabdingbarkeit des Umsteuerns, gerade bei der Mobilität, betont. Und nun ist sogar tatsächlich ein nennenswerter Teil der Bevölkerung gewillt und motiviert, sich (also auch dem manifestierten politischen Willen wie auch dem Unternehmensinteresse nach hoher Nachfrage!) entsprechend zu verhalten. Mehr Züge, mehr Plätze anbieten, das wäre doch die Devise! Doch das geht nicht. Weil: es sind keinerlei Kapazitätsreserven vorhanden. Und wenn doch in geringem Maße verfügbar, trägt niemand die Kosten für deren Einsatz. Die Verkehrswende wird herbeigeredet und - geschrieben. Aber diese moderne Gesellschaft des 21. Jahrhunderts bekommt es nicht auf die Reihe, die Grundlagen und Voraussetzungen für deren Gelingen zu schaffen.

Was haben wir früher gemacht (ich weiß, bei solchen Worten wird man ja inzwischen fast gemeuchelt)? Wenn Züge dauerhaft chronisch überlastet waren, haben wir zu Zeiten der Staatsbahnen entweder ein paar zusätzliche Wagen angehängt, oder „Vor- oder Nachzüge“ gefahren (die Bahnsteiganzeiger größerer Bahnhöfe zumindest auf dem Gebiet der früheren Deutschen Reichsbahn enthielten diese Schriftbilder tatsächlich!).

Heute, in unserer wettbewerbshörigen und kostensenkungsorientiert-marktvergötternden Welt geht das nicht nur nicht mehr, sondern ist nahezu undenkbar geworden. Denn wir haben abgeschlossene, im Ergebnis von Ausschreibungen, also unter massivem Druck auf möglichst gering kalkulierte Kosten, Kapazitäten und Ressourcen entstandene Verkehrsverträge. Diese schreiben beispielsweise genau und konkret vor, welcher Zug wie viele Sitzplätze anzubieten hat. Auf eine Laufzeit von meist zehn bis zwölf Jahren im Voraus! Entsprechend beschaffen darauf aufbauend die Verkehrsunternehmen - und genau das wird preislich kalkuliert, und zwar so knapp wie möglich, denn man will ja den Auftrag bekommen und dann auch noch Gewinn machen - ihre Fahrzeuge und ihr Personal. Was natürlich zwangsläufig zu Problemen führt, wenn durch ein Deutschlandticket oder den (ich wiederhole: notwendigen und politisch gewünschten!!!) Bewusstseinswandel der Menschen plötzlich das Aufkommen an zu befördernden Personen (oder auch Fahrrädern) massiv steigt. Alles, was dann versucht wird, um nachzusteuern, ist mit Aufwand, mit wettbewerbsrechtlichen Bedenken (die ehemaligen Konkurrenten könnten ja klagen) und in jedem Falle mit Finanzierungsproblemen verbunden und zumindest bislang immer wieder gescheitert.

Was ist also zu tun? Immer, wenn ich nur ansatzweise diese Frage angerissen habe, bin ich bisher auf hektisch-verstohlenes Schulterzucken gestoßen. Weil niemand eine Antwort, und auch kein Geld hat. Letzteres ist zwar überreichlich vorhanden, aber dranzukommen würde bedeuten, sich mit den mächtigen Lobbys der Superreichen anzulegen, und dazu fehlen entweder der Wille oder der Mum. Aber das bringt uns nicht nur nicht weiter, sondern vergrößert die Probleme und die allseits empfundene Ohnmacht, während weiter die Gletscher schmelzen und die Wälder sterben, aber das ist wohl in Kauf zu nehmen, erst recht, wenn die zu erzielende Kriegstüchtigkeit des Landes ganz offensichtlich politisch wichtiger ist als der Erhalt der Lebensgrundlagen…

Ich für mich meine, es führt tatsächlich kein Weg daran vorbei, einmal unsere einseitige Fixierung auf Marktgesetze, Renditestreben und Konkurrenz in Frage zu stellen, zumindest dann, wenn es um den Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge geht. Dass dies nicht die Abkehr von Anbietervielfalt auf den Gleisen bedeuten muss, macht die Schweiz vor. Auch dort gibt es zahlreiche Bahnunternehmen, die sich aber mit einem Wettstreit um Ideen und Konzepte gegenseitig befruchten, und in Kooperation statt ökonomischer Konfrontation im Sinne des Gesamtsystems verbunden sind, von welchem Letzteres - wie sich jede und jeder vor Ort überzeugen kann - ausdrücklich profitiert. Zum Wohle der Gesellschaft und im Interesse derer, die nach uns kommen sollen. Aber ob sich hierzulande mal jemand von den Verantwortlichen traut, unsere Widersinnigkeiten ernsthaft in Frage zu stellen?

Einstweilen werde ich wohl, allen Gewissenskonflikten zum Trotz, nicht umhin kommen, für den Adventsbesuch meiner Mutter, soll er nicht entfallen, ein Auto zu mieten und zwei mal die hundert Kilometer jeweils hin und zurück auf der Straße zu fahren. Und im erwartbaren Stau auf der Autobahn darüber sinnieren, wie es hierzulande mit unserer angeblich menschlichen Vernunftbegabung tatsächlich aussieht.

Weimar, im November 2023

Matthias Altmann, Grüner EVGler

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